Eine Fallgeschichte: Vom Kommen, Wüten und Verschwinden eines Traumas
Eines war sicher: der Exmann zahlte nicht mehr. Und nachdem er und seine Neue nach der Trennung brav weiter mit meinen Ex-Porsches herumdüsten und auf sichtbar großem Fuß lebten, mit schönem geräumigem Haus, Urlauben, Essen gehen und anderem Schnickschnack, war es mehr als ersichtlich, dass er nicht weiterzahlen wollte. „Wage es ja nicht einen Anwalt einzuschalten“ hatte mich der Ex damals gewarnt, „sonst bring ich Dich um“. Er war immer mehr auf den Geschmack gekommen, Dinge auch in schlagender und drohender Manier lösen zu wollen. Einmal hatten meine Nachbarn die Polizei gerufen, als ich wieder einmal durch meine Küche flog und Möbel und Geschirr umriss. Es folgten viele weitere Polizeieinsätze. Bei denen Vater Staat nie etwas unternommen hatte. „Er ist doch schließlich der Vater, er wird den Kindern schon nichts tun“, hatte einmal ein Polizist zu mir gesagt, nachdem ich wieder einmal Hilfe rufend auf die Straße gelaufen war, den Kleinen auf dem Arm. Auch Passanten hatten sich nie eingemischt, um zu helfen. Keiner wagte in diesen Situationen dazwischen zu gehen. Das Ganze gipfelte in einem Zwischenfall, der alles bis dahin Gewesene in den Schatten stellte. Es war Wochenende und der Ex hatte angekündigt die Kinder abholen zu wollen, um mit ihnen Skifahren zu gehen, was den Kindern nicht unbedingt immer das Liebste war, sie verbrachten die Wochenenden auch gerne zuhause, mit ihren Freunden, in gewohnter Umgebung oder ganz einfach vor der Spielekonsole. Und so war der Ältere von beiden noch nicht angezogen, als der Ex kam, was diesen erboste. „Ich möchte nicht mitfahren, es gibt doch sowieso bloß wieder Streit,“ erklärte mein Sohn dem Ex. Und schon verließ ich das Zimmer. Ich war seit meiner Jugend, die leider auch nicht immer ohne Gewalt ausgekommen war, richtiggehend allergisch gegen körperliche Attacken, gegen laute Stimmeinsätze und jede Art von Streitigkeiten. Drohungen hielt ich nicht aus und trat immer sofort die Flucht an. Dem jüngeren meiner beiden Söhne ging es ähnlich. „Komm, wir holen Deinen Koffer!“, sagte ich zu ihm, nahm ihn bei den winzigen Schultern und schob ihn in Richtung seines Zimmers. Als wir seine kleinen T-Shirts, Pullover und Stofftierchen in sein Täschchen packten, hörten wir plötzlich dumpfes Gepolter aus dem hintersten Teil der Wohnung, so, als würden Möbel umgestoßen. Dazu Schreie. Ich war wie Schock gefroren. Wusste nicht was ich machen sollte. Fühlte mich in meine Jugend zurückversetzt. Der Macht des Vaters ausgeliefert. Todesangst. Stand da wie angewurzelt und konnte mich nicht bewegen. Mein jüngerer Sohn sah mich ob meines offensichtlichen Erstarrens entsetzt an und rannte los, um seinen Bruder zu retten. Ich hastete hinterher. Der kleine Kerl sprang auf den Rücken des Ex, der den Eingang zum Zimmer versperrte, zerrte ihn an den Haaren, schlug auf seinen Rücken ein und schrie :“Hör auf, hör auf!“ Sein Bruder war inzwischen vom Boden hoch gekrochen, soviel konnte ich durch das Gemenge an Exmann und diesem winzigen, mutigen Sohn erkennen, und versuchte aufrecht auf uns zuzugehen. Entsetzen stand in sein Gesicht geschrieben. Die Augen weit aufgerissen, obwohl sie gleichzeitig drohten zuzuschwellen. Ihm lief Blut über das gesamte Gesicht, aus Mund und Nase, und sein zartes Gesichtchen schwoll von Sekunde zu Sekunde immer mehr an. Übersät mit lauter Blutergüssen schluchzte und zuckte sein ganzer Körper bei jedem Atemzug. „Wasch Dein Gesicht ab“ der Ex herrschte ihn lauthals an, das Blut aus seinem Gesicht zu waschen, das inzwischen über seinen Oberkörper lief. Zitternd versuchte das Kind sich zu reinigen, da konnte ich mich endlich aus meiner Erstarrung lösen, drückte vorsichtig den Exmann zur Seite, griff nach dem Arm des verletzten Kindes, zog ihn zu mir heran und sagte, „das mache ich.“ In mir tobten die Emotionen. Das Blut pulste in meinem Kopf. Ich hatte keine Strategie. Wusste nicht, wie ich den Ex möglichst schnell aus der Wohnung bekommen würde. Ob ich einen Arzt rufen sollte? Die Polizei? Ob er gleich wieder anfangen würde zu schlagen? Lagen irgendwo gefährliche Gegenstände? Ich blickte prüfend um mich.
Der Ex war immer noch höchst aggressiv und schrie permanent durch den ganzen Raum auf meinen Sohn ein: „Du musst nicht denken, dass Du mir irgendwann zu groß wirst! Dann habe ich Leute, die Dich verprügeln! – Was? Hast Du was gesagt?“ Zwar hatte er sich überreden lassen sich hinzusetzen, dennoch wallte es immer wieder in ihm auf. Mein Sohn schluchzte und zitterte. Saß zusammengekauert in der anderen Ecke des Raumes und wirkte völlig apathisch. Sein Gesicht war in der Zwischenzeit bis zur Unkenntlichkeit angeschwollen. Ich wusste, wenn er nur einen Ton von sich geben würde, würde dieser Mensch wieder auf ihn los gehen und wenn wir uns dazwischen werfen würden, würde er sich auf uns alle stürzen. Immer mehr ließ der Ex vom Kind ab und schimpfte auf mich ein. Was der Sohn für ein Versager wäre und wie ich ihn schlecht erzogen hätte und dass man sich für ihn schämen müsse. Dass ich mich unterstehen solle, aus dem kleineren Sohn auch einen derartigen Abschaum zu kreieren, noch sei dieser ja nicht derart missraten. Ich widersprach nicht, sondern versuchte in sanftester, mir möglicher Art und Weise zu erklären, dass wir es für heute gut sein lassen sollten, dass er gehen sollte und einfach am nächsten Morgen wiederkommen. Und wie durch ein Wunder ließ der Ex sich tatsächlich überreden uns zu verlassen. Kaum war er aus der Tür, kümmerte ich mich erst einmal um die Wunden meines Sohnes. Der war inzwischen schluchzend, mit einem deutlichen Schüttelfrost in sich zusammengefallen. Ich zog ihn zu mir hoch, presste ihn fest an mich, zog ihm seinen Jogginganzug aus, ließ ein Bad ein. Alles ohne ihn auch nur eine Sekunde aus den Armen zu lassen. Ich setzte ihn in die Wanne und begann ihn vorsichtig abzuwaschen. Sein Gesicht war übersät mit Blutergüssen, am Rücken hatte er faustgroße Hämatome, am Kopf mehrere Beulen. Ich begann laut zu weinen. Entsetzen sieg in mir auf. Darüber, dass ich ihn nicht wirklich beschützen konnte in diesen Situationen. Über meine eigene Feigheit. Meine Angst. Ich war eine schlechte Mutter. Der größte Alptraum einer Mutter, den man sich vorstellen konnte. Und der Ex ein Monster. „Aber was hätte ich denn machen sollen?“ schoss es mir durch den Kopf, während ich meinem Baby mit einem Waschlappen immer wieder warmes Wasser über seine Schultern laufen ließ. Aber die Antworten ließen nicht lange auf sich warten. „Du hättest Dich dazwischen werfen können. Schneller reagieren. Du hättest gar nicht erst aus dem Zimmer gehen dürfen. Ihn schon längst verklagen. Schon längst um das Sorgerecht kämpfen.“ Aber ich hatte zugesehen. „Wenn ich nicht so Angst davor hätte, würde ich mich umbringen“, unterbrach mein Sohn mit zittriger, leiser Stimme meine Selbstvorwürfe. „Oh Gott! Oh Gott! Nein, so etwas darfst Du gar nicht denken!“ rief ich entsetzt und hielt ihn ein wenig von mir weg um ihn besser ansehen zu können. Aber er hielt seine Augen geschlossen und entgegnete zitternd, aber mit ruhiger Stimme: „Doch. Das wäre das Beste. Dann wäre Ruhe.“ Schon allein dadurch, dass er wusste, dass man Angst bekam, wenn man sich dem Tod näherte, ernüchterte mich mit der Wahrheit, dass er tatsächlich hingedacht haben musste. Und gleichzeitig zog durch diese Äußerung meines geliebten Sohnes Entschiedenheit und Realismus in mir auf. Nie wieder würde ich einen derartigen Übergriff hinnehmen. Ich sollte die Polizei rufen. Vielleicht besser einen Arzt. Aber wenn ich einen Arzt rief und der dann die Wunden und Verletzungen sehen würde, müsste der dann nicht die Polizei rufen? Nein – ich musste alles geschickter lösen. Spontan ging gar nichts. Ich sollte die Schule mit einbeziehen. Das Jugendamt. Das Jugendzentrum. Sie alle mussten Bescheid wissen und wenn sich wieder etwas abzeichnen würde, könnten diese ganzen Menschen sich auf meine Seite stellen und uns unterstützen. Ich sollte wieder versuchen mir Hilfe zu holen. In dieser Nacht schliefen meine Söhne und ich eng umschlungen in meinem Bett. Ich ließ sie nicht eine Sekunde aus meinen Armen.
Eigentlich hätte ich wissen müssen, dass der jahrelange Übergriff mit dieser Tat nicht beendet sein konnte. Ich hatte in der Folge wochenlang versucht mit Jugendamt und Jugendarbeitern der Gemeinde zu sprechen, aber sie glaubten meinen Ausführungen nicht wirklich. Und hätte er sechs Wochen nach dem schrecklichen Zwischenfall nicht wieder gedroht auf uns loszugehen, dieses Mal bereits per Ankündigung am Telefon, weil beide Kinder wieder den Besuch bei ihm verweigerten und er daraufhin wieder drohte, wäre ich wohl nie zur Polizei gegangen. Nun – an diesem Tag erstatteten wir Anzeige. An diesem Tag ließ die Polizei es zu. Es war wie ein Befreiungsschlag. Gemischt mit Angst. Und natürlich rief der Ex mich an, während wir bei der Polizei saßen. Und natürlich drohte er. Da gab ich den Hörer einfach wortlos an den Polizeibeamten weiter. Nie wieder wollte ich Kontakt mit ihm haben. Nur unser Nachhauseweg musste an diesem Tag noch polizeilich beschützt werden. Mehrere Polizeiwägen prüften, ob sich sein Auto irgendwo in der Nähe unseres Zuhauses befand und als wir unsere Wohnung erreicht hatten, die von der Straße aus ein wenig einsehbar war, machten wir an diesem Tag kein Licht und krochen auf allen Vieren durch die Wohnung ins Bett, damit er nicht wissen konnte, dass wir zuhause waren. Dennoch spürte ich eine unglaubliche Sicherheit in mir wachsen, die mir sagte, dass ich mich endlich richtig verhalten hatte. Einen Grenze gezogen hatte. Selbstverständlich hatte ich noch Angst, dass weitere Übergriffe folgen würden. Aber für den Fall, dass er Schlimmeres vorgehabt hätte, wäre er jetzt wenigstens nicht mehr ungeschoren davon gekommen, die Polizei hätte eine Handhabe gehabt. Als wir im Anschluss tatsächlich zwei Wochen nichts von ihm gehört hatten und als sich dann die Kriminalpolizei bei mir meldete, ich solle noch einmal aussagen, war ich verwirrt. Er hatte natürlich Gegenanzeige erstattet wegen Verleumdung, das war in solchen Fällen immer seine Masche gewesen. Doch vor Ort ging die Polizistin überhaupt nicht auf seine Anzeige ein. Vielmehr befragte sie mich ausführlich zu seinen Wohnsitzen, seinem finanziellen Hintergrund, zu seinem Verhältnis zu den Kindern, zu dem Zwischenfall mit meinem Sohn. Und erst als wiederum zwei bange Wochen später durch einen Anruf einer Verwaltungsangestellten aus einer Justizvollzugsanstalt mitgeteilt wurde, dass er sich derzeit nicht um die Kinder kümmern könne, war klar, dass er verhaftet worden war.
„Völlig klar, dass Sie wie angewurzelt dastanden und nicht reagieren konnten“, erklärt mir Swantje Benussi. Zehn ganze Jahre hatte es gedauert, dass ich den Weg zu einem Coach und einem Traumatherapeuten gefunden hatte, obwohl meine Söhne schon längst eine Therapie hinter sich hatten. Aber „ich brauche so etwas nicht“, hatte ich immer gedacht, „ich schaffe das auch so“. Und so absurd es im Nachhinein klingen mag: Meine erst sehr viel später aufgetretenen Panikattacken, Angstzustände, das Gefühl zu ersticken und unsagbare Erschöpfung, wenn es mir wieder einmal die Augen nach hinten drehte und ich Angst hatte zu sterben, hatte ich nie mit den Zwischenfällen mit dem Ex oder meinem Vater in Verbindung gebracht.
Bereits Anfang 20 hatte ich einen ersten Burnout und damals, vor 30 Jahren, wusste man hierzulande noch so gut wie nichts darüber. „Den Stress herunterfahren“, hieß es damals, wie heute bei Arztbesuchen. Aber ich empfand meine täglichen Belastungen nie wirklich als stressig. Sogar die Momente, in denen es so richtig hektisch zuging und die Wogen über mir zusammenschlugen, liebte ich. Mich zu verausgaben. An meine Grenzen zu gehen. Und dann im Nachhinein, nach einer kurzen Phase der Erholung zu sehen, was ich gestaltet hatte und mit Stolz darauf zu blicken. Schließlich war ich in der heutigen Zeit nicht die Einzige, die an ihre Grenzen stieß. Sie sind nun mal rar, die Auszeiten, in denen man sich wirklich fallen lassen kann. Dennoch fühlte ich mich immer privilegiert, weil ich mein Leben so gestaltet hatte, wie ich es mir immer vorgestellt hatte. Und trotzdem stellte ich immer wieder fest, dass ich deutlich weniger belastbar war als andere. Große Einschränkungen machten sich breit, bestimmte Gelegenheiten, die ich nicht wahrnehmen konnte, wie große Menschenansammlungen, Tätigkeiten, wie lange Autofahrten, die ich nicht mehr ausführen konnte. Sie stressten mich. Bis ich eines Tages auf der Couch lag und bei einem Film über das posttraumatische Belastungssyndrom die Hauptdarstellerin anherrschte, doch endlich einmal zum Arzt zu gehen. In dieser Sekunde wurde mir klar, dass ich scheinbar etwas mitschleppte, was anderen Menschen an Ballast erspart geblieben war, und diese sich daher von Stressmomenten deutlich schneller erholten, als ich es bisweilen konnte.
Es musste also ein größerer, bedeutenderer Stresszustand unter der aktuellen Stressbelastung schwelen, der es nicht zuließ, dass ich mich grundlegend erholte, und der den aktuellen Stress als viel belastender empfinden ließ, als er vielleicht tatsächlich war. Wo ich doch immer so unglaublich belastbar gewesen war. Ich ärgerte mich. „Es handelt sich hierbei um eine Re-Traumatisierung“, fährt Swantje Benussi eindringlich fort, „das Erleben der Machtlosigkeit gegenüber Ihres Exmannes ist eine Retraumatisierung des Momentes, als Sie machtlos vor Ihrem Vater standen, der Sie schlug. Diese Machtlosigkeit ist in Ihr heutiges Leben nicht integriert und würde Sie in einer ähnlichen Situation auch heute erstarren lassen.“ Ich hatte ganz vergessen, dass ich bereits beim Ausmachen des Termins auf zwei große traumatische Zustände in meinem Leben hingewiesen hatte und kurz einen Zwischenfall mit meinem Vater beschrieben hatte. Aber ich hatte ihm doch längst vergeben. Ich hatte ihn doch so geliebt, über seinen Tod hinaus. „Eigentlich müsste man Sie in diese Situation zurückbringen und Sie müssten anfangen, sich zu bewegen, um diese Erstarrung zu lösen“, ergänzt Claudia Herkert, Traumatherapeutin bei Benussi Coaching, „dann würden Sie in einer nächsten Situation anders handeln können. Aber in der damaligen Situation mit Ihrem Sohn und dem Exmann konnten Sie nicht anders handeln, da ihre neuronalen Verknüpfungen so geschaltet sind: Erstarrung, sonst sterbe ich.“ Ich sitze da und winde mich unter meinen Schuldgefühlen, Scham steigt wieder in mir auf. Hätte ich nicht immer wieder diese Panikattacken, wäre ich längst aufgestanden, hätte mich verabschiedet. Ich wollte mich nicht mehr in diese schrecklichen Horrorszenarien zurückversetzen. Aber gleichzeitig wollte ich auch nicht mehr, dass sie noch Macht über mein Leben haben. „Ich möchte endlich frei sein davon“, entgegne ich „bekommt man das irgendwie weg?“ „Diese Machtlosigkeit ist etwas, das Sie akzeptieren müssen. Sie können nicht alles schaffen im Leben. Sie müssen zum Teil dem Leben zugestehen, dass es auch etwas von Ihnen abgefordert hat. Etwas, für das Sie keine Schuld tragen, obwohl Sie sich schuldig fühlen. Sie konnten noch nicht einmal ihrem Sohn, den Sie mit Sicherheit am meisten auf der Welt lieben helfen, weil Sie so traumatisiert waren.“ Ich halte mir den Kopf, schüttle ihn hin und her. Nein, ich war mir sicher. Ich hatte versagt und hätte anders reagieren müssen. Selbst vor Gericht hatte ich mich damals für mein Versagen entschuldigt. „Ich weiß, dass Sie sich das selbst nicht glauben, dass Sie nicht hätten anders reagieren können,“ fährt Claudia Herkert fort, „aber Sie müssen sich selbst verzeihen. Es geht darum, mit dem alten Schmerz aufzuräumen. Nicht, dass er anschließend nicht mehr da wäre – er bleibt immer bestehen. Aber der Umgang mit der Erinnerung wird sich ändern. Denn wenn wir Traumata nicht bearbeiten und ihnen ihren Lauf lassen, werden sie mit der Zeit zwar verwässert, auf der andern Seite entstehen aber gleichzeitig Ängste und Zwänge, weil wir uns immer unsicherer fühlen, weil wir seinerzeit die Kontrolle verloren haben und nun stets befürchten müssen, dass wir sie wieder verlieren könnten,“ erklärt die Therapeutin, schließlich ginge es nicht immer nur darum stark zu sein sondern vielmehr wäre es wichtig, auch Schwäche zuzulassen und sich Ruhe zu gönnen. Auf die eigenen Bedürfnisse zu hören und vor allem auch herauszufinden, wo diese liegen. „Im Gehirn gibt es neuronale Nervenbahnen,“ merkt Claudia Herkert an, „die wie ein vorgeschriebener Weg immer wieder gegangen werden. Diese Wege haben sich wie breite Autobahnen in Ihrem Gehirn eingefahren. Und weil das Gehirn immer im Energiesparmodus arbeitet, greift es immer wieder auf diese Autobahnen zurück. Ein neuer, kleiner Pfad ist für das Gehirn viel schwieriger zu begehen. Diese alten Verhaltensweisen müssen quasi überschrieben werden und hierzu muss man den neuen Weg immer und immer wieder gehen. Das Gehirn geht also immer den Weg des geringsten Widerstandes. Es nutzt das, was am wenigsten Energie erfordert – und das sind nun mal die alten Verhaltensweisen. Es ist ein Prozess, an den man immer wieder mit unterschiedlichen Methoden herangehen muss. Und jede Methode das zu tun, ist ein Mosaikstein des Heilungsprozesses. Und es wird immer besser werden mit der Zeit. Die Erinnerung wird zwar die gleiche bleiben, aber der empfundene Schmerz wird dabei nicht mehr so stark sein. Jedes Mal wird es demnach ein bisschen weniger schlimm sein. Sie müssen sich das so vorstellen: Sie haben ein Loch in Ihrem Pulli. Jedes Mal wenn Sie ihn nun in die Wäsche geben und er in der Waschmaschine gedreht und geschleudert und gespült und an ihm gerieben wird, wird das Loch immer größer und franst aus. Irgendwann ist das Loch so groß, dass Sie es nicht mehr verstecken können. EMDR (Eye Movement Desensitization and Reprocessing, was auf Deutsch Desensibilisierung und Verarbeitung durch Augenbewegung bedeutet, erfahre ich später) ist eine geeignete Therapie hierfür. Sie ist wie ein Flicken, der auf das Loch genäht wird. Man wird das Loch zwar weiterhin wahrnehmen, aber es kann nicht mehr größer werden und der Pulli kommt so nicht weiter zu Schaden.“
Zentrales Element der EMDR-Therapie sind die geleiteten Augenbewegungen – auch bilaterale Stimulation genannt, erklärt mir Claudia Herkert. Ich werde den Fingern der Therapeutin mit seinen Augen folgen, während diese ihre Hand abwechselnd nach rechts und links bewegt. Meine Augenbewegungen seien dabei mit den Augenbewegungen im REM-Schlaf vergleichbar – der Phase des Schlafes, in der die Geschehnisse des Tages verarbeitet werden. Ich könne mir so gemeinsam mit ihr die mit dem traumatisierenden Geschehen verbundenen Bilder und Situationen ansehen und sie von den belastenden Emotionen entkoppeln. In der Regel leite sie während einer Sitzung mehrere Sequenzen der Augenbewegungen an, die eine halbe bis eine Minute dauern. Das sei aber individuell ganz verschieden.
Eigentlich kann ich es kaum erwarten, mein Trauma anhand irgendwelcher Augenbewegungen zu eliminieren. Es klingt so einfach, dass es mich völlig begeistert. Dennoch geht es zunächst ins tiefere Gespräch mit Swantje Benussi. „Wir müssen jetzt nochmals in die Situation mit Ihrem Vater eintauchen und genau klären, was Sie damals empfunden haben. Erzählen Sie doch mal, was Sie damals empfunden haben. Versetzen Sie sich wieder in die Situation, als Sie vor dem Vater standen und unerlaubterweise zu spät heimgekommen sind.“ Das erste Mal in meinem Leben sehe ich dieses zarte 17-jährige Mädchen vor mir, das in Todesangst erschauert, sich nicht aus der Situation lösen kann. Ich fange an zu weinen. Beschreibe, wie ich mir in die Hosen gemacht habe. Und wie ich nur eines wollte, dass er aufhört mich zu schlagen, wo ich doch nur wollte, dass er mich liebt. „Wenn Sie so wie Sie heute sind, als erwachsene Frau, in der Situation dazukommen würden, wie könnten Sie dem jungen Mädchen helfen? Was würden Sie tun oder dem Vater sagen.“ Nun, ich würde ihm sagen, dass er keine Angst um mich zu haben bräuchte, dass ich ihn liebe und er mich nicht verlieren würde. Dass er Vertrauen zu mir haben dürfte und nichts passieren würde, weil ich meinen Weg gehen würde. Denn all das wüsste ich heute. Swantje Benussi trocknet mir die Tränen. Ich fühle Erleichterung in mir aufsteigen, eng umschlungen sitze ich in Gedanken da, mit meiner jüngeren Version meines Selbst und meinem Vater. Ein erster Schritt war getan.
Beim nächsten Termin am nächsten Tag durfte ich endlich das EMDR in Anspruch nehmen. Jetzt wollte ich klar Schiff machen in meinem Leben. Waren doch über Nacht immer mehr Details in mir aufgetaucht, dieich dringend bearbeiten wollte. „Am Anfang werden wir einen sicheren Ort schaffen, eine Art imaginären Panic Room,“ eröffnet Claudia Herkert die Sitzung. Natürlich könne man sich hier in der Vorstellung auch auf einen real existierenden Ort beziehen, erfahre ich, denn diesen Ort gestalte sich jeder so, wie er es für sich selbst als richtig empfände. Es könne sowohl ein Platz in der Natur sein, ein Haus oder ganz einfach ein Raum, den es gilt auszustatten. Wichtig sei nur, dass niemand sonst dort Zutritt hat, wenn man es selbst nicht wünschte. Ein Platz, an dem man vor Gewalt sicher sei, vor Einbrüchen, sicher davor, vergewaltigt zu werden, sicher vor all dem, was einem Angst bereitet. Auch sie selbst, als Therapeut, habe hier keinen Zutritt, wenn man es nicht möchte. In Gedanken kreiere ich meinen ganz persönlichen Raum, in meinen Lieblingsfarben, mit fluffigen Materialien und liebevollen Details. In einem für mich untypischen Rosa, hie und da blitzt der eher kleine Raum durch polierte Goldelemente auf. „Im zweiten Schritt wird in diesem Raum ein Tresor installiert, in den alles gesperrt werden kann, was in den traumatischen Erinnerungen vorkommt, auch Menschen“, führt mich Claudia Herkert in entspannter Pose immer weiter in meinen Gedanken. Insbesondere Kinder sperrten gerne Menschen in diesen Tresor, erfahre ich. Aber er sei auch hervorragend geeignet, um belastendes Material sicher zu verwahren, das man später gemeinsam mit dem Therapeuten wieder herausholen könne, um es zu bearbeiten. Nun, Menschen möchte ich nirgendwo versperren, ich wehre mich innerlich gegen diese Vorstellung. Fühle sogar eine Art Bedrohung in mir aufsteigen bei dem Gedanken. Claudia Herkert lächelt “Sie machen das alles so, wie Sie es möchten, das sind alles nur Möglichkeiten. Sie müssen gar nichts.” Und schon heißt es sich zurückzulehnen und zu entspannen, beide Beine fest auf dem Boden zu verankern und die Augen zu schließen. Wir atmen beide bewusst ein und aus, geben beim Ausatmen lange Töne von uns. Ich fühle mich ein wenig wie ein buddhistischer Mönch, jedes Mal, wenn beim Ausatmen mein Ohhh den Raum zum Schwingen bringt. Dann werde ich angeleitet in Gedanken erneut den sicheren Ort aufzusuchen. Durch ein leichtes Klopfen auf die Oberarme bei verkreuzten Armen wird das Gefühl der Sicherheit dieses Raums im Gehirn verankert, erfahre ich, während ich klopfe und mich in meinem Raum wohlfühle. Mit dieser angenehmen Grundschwingung geht es dann in Gedanken in die Situation, in der sich das erste Mal die Folgeerscheinungen des Traumas gezeigt hatten. In die Situation der Panikattacke, Angststörung und das Gefühl der Machtlosigkeit, das bei mir ganz überraschend während einer Autofahrt aufgetreten war und mit den traumatischen Ereignissen vermeintlich überhaupt nicht in Zusammenhang gestanden hatte. „Bewerten Sie auf einer Skala von 0-10, wie viel Stress dieses gedankliche Durchleben der Situation momentan bei Ihnen verursacht“, weist die Therapeutin mich an. Ich fühle 400. Eine Zehn wäre viel völlig untertrieben. Claudia Herkert nickt nur verständnisvoll und bittet mich, diese Stresssituation durch ein auflösendes, ebenso starkes Gegengefühl zu ersetzen. Nachdem ich bei dem negativen Gefühl den Eindruck hatte, ad hoc sterben zu müssen, liegt beim positiven Wunsch-Gefühl die Lösung nahe: ich bin kraftvoll und spüre das Leben in mir. Dann beginnt die eigentliche Behandlung. Die Therapeutin erklärt mir, dass ich in Gedanken bei diesem Satz bleiben und mit den Augen, ohne dabei den Kopf zu bewegen, ihrer Bewegung, die sie mit den Fingern mache, folgen solle. Wir würden nun wieder in diese Emotionen eintauchen und dann gemeinsam, wie bei einer Zugreise noch einmal am traumatischen Geschehen vorbeifahren. Nur wäre ich dieses Mal zin jeder Sekunde davon in SIcherheit, hätte meinen sicheren Raum und wäre auch nicht alleine, sie wäre immer bei mir und wieer könnten in jedem Augenblick aauch abbrechen und die Situation verlassen, falls es zu unangenehm würde. Im Laufe der Sitzung verblassen die belastenden Erinnerungen immer mehr und die Symptome des Traumas verlieren an Stresswirkung. Der Rückblick auf das Geschehene verliert an Dramatik. Selten habe ich so viel geweint. “Per Affirmation kann nur nachhaltig impementiert werden, wenn ein emotionales Feuerwerk entzündet wird”, erklärt mir Claudia Herkert. Und so lerne ich bereitwillig höchst emotional mit den alten traumatischen Erinnerungen und Gedanken umzugehen und eine neue Perspektive auf das Geschehen zu entwickeln. Emotionen müssen trainiert werden, erfahre ich. Bei manchen Erinnerungen fehlen mir gänzlich die dazugehörigen Emotionen oder Teile der Erinnerung. “Das ist ganz normal”, so Claudia Herkert, ” das nennt man blinde Flecken. Das ist ein innerer Beschützeranteil, der verhindert, dass man wieder zu den traumatischen Ereignissen zurückgeht. Aber das gibt sich mit der Zeit. Diese blinden Flecken, diese Abkapselungen können gelöst werden. Ähnlich wie beim Schälen einer Zwiebel.”
Zum Schluss sollte die negative Kognition auf ein Minimum an Stressempfinden reduziert sein und stattdessen die positive Kognition Wohlbefinden auslösen. Dieses Wohlbefinden wird mit einer weiteren Handbewegung der Therapeutin abgespeichert. Im Grunde reicht bisweilen eine dieser Behandlungen, um eine deutliche Verbesserung herbeizuführen, erfahre ich. Und tatsächlich fühle ich mich bereits nach einer Behandlung unglaublich befreit, habe eine deutlich bessere Laune und die Stimmung erinnert mich bisweilen an freie und fröhliche Kinderzeiten. Jedoch nur zwei Tage lang. Dann schieben sich nämlich weitere Erinnerungsdetails und ganz andere Geschichten in den Vordergrund. “Es ist normal, dass mit Sicherheit noch weitere Türen geöffnet werden müssen, damit man an die wahre Ursache des Problems herankommt und dauerhafte Stabilität erreicht.”, so Claudia Herkert. Und es folgen weitere Sitzungen, in denen wir Dinge bearbeiten und besprechen, von denen ich nie gedacht hätte, dass sie in das Problem hineinspielen. Am Schluss waren es ganze fünf Sitzungen, um mein Gefühl des Neugeborenseins zu erreichen. Aber was sind schon fünf bewegte Stunden im Gegensatz zu jahrelangem Leid und Einschränkungen.
Was genau ist EMDR?
EMDR, Abkürzung für den englischen Terminus Eye Movement Desensitization and Reprocessing, bedeutet die Desensibilisierung und Verarbeitung von traumatischen Ereignissen durch Augenbewegungen. Entwickelt wurde diese Psychotherapieform Ende der 80er Jahre von Dr. Francine Shapiro, um eine effektive Behandlung von Traumafolgestörungen bei Personen aller Altersgruppen zu ermöglichen. Seit 1991 wird EMDR auch in Deutschland praktiziert, 2006 wurde sie vom wissenschaftlichen Beirat für Psychotherapie offiziell als wissenschaftlich begründete Psychotherapiemethode anerkannt. Seitdem belegen zahlreiche wissenschaftliche Studien ihre Wirksamkeit, bei denen die Forschungsergebnisse zeigten: rund 80 Prozent der Patientinnen und Patienten mit einer einfachen posttraumatischen Belastungsstörung sollen sich bereits nach nur wenigen Sitzungen der EMDR-Behandlung, bei der die belastenden Erinnerungen unter Nutzung der bilateralen Stimulationen bearbeitet werden, spürbar entlastet fühlen.
Wirksam ist eine EMDR-Behandlung aber auch bei Depressionen oder Angstzuständen – vor allem dann, wenn die Entstehung der Störung von belastenden Lebensereignissen begleitet wurde. Bei der EMDR-Methode folgt die Patientin beziehungsweise der Patient den Fingern des Therapeuten mit den Augen, während dieser seine Hand abwechselnd nach rechts und links bewegt. Diese Stimulation unterstützt das Gehirn beim Aktivieren der eigenen Selbstheilungskräfte umso die belastenden Erinnerungen verarbeiten zu können.
Über die Interviewten
Claudia Herkert
https://connect-develop.de/de/claudia-herkert/
Swantje Benussi
https://connect-develop.de/de/swantje-benussi/
Quelle: Veröffentlichung im Habor Magazin, Elke Bauer